Niehoff, Franz (Hrsg.). Dagmar Pachtner, Überschreitung. Dokumentation zur Installation "Überschreitung" von Dagmar Pachtner in der Landshuter Spitalkirche Heiliggeist vom 16. Februar bis 14. April 2002.
140 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen.
Mit Beiträgen von Franz Niehoff, Franz Schneider u.a.
Museen der Stadt Landshut 2002.
ISBN 3-924943-31-1
Preis: 20,00 EUR zzgl. Versandkosten, erhältlich bei museen@landshut.de
Die Museen der Stadt Landshut gaben der Objektkünstlerin Dagmar Pachtner, zu deren engerem Arbeitsbereich Kunst im öffentlichen Raum und Rauminstallationen gehören, die Möglichkeit, in der ehemaligen Spitalkirche Heiliggeist eine Installation zu realisieren, die unter dem Titel "Überschreitung" in der Zeit vom 16.2.-14.4.2002 zu sehen ist. Hierzu legen die Veranstalter eine bestens konzeptionalisierte und ausgestattete Dokumentation vor.
Pachtner ließ den Boden der spätmittelalterlichen Hallenkirche mit Erde auffüllen, die, so im Klappentext, "den Humus für eine vielschichtige künstlerische Reflexion über Gegenwart und Zukunft menschlicher Existenz im Brennspiegel der Gentechnologie" bildet. Auf diesem Humus durchzieht eine Bahn aus groben Industrieglasscherben das Mittelschiff der Kirche bis zur Mittelsäule und bedeckt eine Vielzahl blauer Neonröhren, die leicht achsenversetzt ebenfalls west-östlich ausgerichtet sind. In den beiden Seitenschiffen finden sich in serieller Reihung je 12 Puppen: ein "Original" und 23 mit Strichcodes versehene Kopien dieses Originals, deren Anordnung sich wiederum an der Architektur des Raumes orientiert. So entzünden sich auch in dieser Arbeit Pachtners "Assoziationsketten" in der Fusion von Material und Form, in engem Zusammenhang mit dem jeweiligen aktuellen Ort", wie Franz Schneider in seinem Beitrag (S. 15-23) feststellt, in dem er vorangegangene Arbeiten der Künstlerin vorstellt.
Teil des Ganzen ist eine eigens im Westen erbaute Empore. Nur von ihr herab kann der Besucher das Arrangement am Kirchenboden betrachten. Andere Perspektiven eröffnet der Bildschirm in einem vom Kircheninnern abgetrennten "inszenierten 'Privatraum'" (Niehoff, S. 31).
Pachtner selbst trägt im Katalog mit dem Text "Motivationen - Zur Installation in Heiliggeist" (S. 66-69) zur Interpretation ihrer Arbeit bei. Angesichts des Spannungsfelds zwischen Erdhaftigkeit und Spiritualität stellt sich dem Betrachter die Frage nach seinem eigenen Selbstverständnis. "Mit den Mitteln der Kunst" möchte Pachtner ihn "bei der Überschreitung der Brücke" dazu bewegen, sich die Frage nach dem "Geheimnis des Lebens" zu stellen, wie auch speziell diese: "... wem gehört das Erbgut des Menschen?" (S. 69)
Dem Leser des vorliegenden Buches eröffnet der umfangreiche "Bildessay" des Fotografen Rolf Sturm (S. 71-125) die verschiedensten Ansichten auf die Gesamtinstallation und ihre Details im Kirchenraum. Sehr eindrucksvoll dokumentiert die Fotoauswahl die Wirkung des Lichts: Der Charakter von Exponiertem und seiner räumlichen Hülle verändert sich unablässig im Wechsel von Tag, Dämmerung und Nacht. Mit abnehmendem Tageslicht steigt die färbende Kraft des blauen, also Transzendenz symbolisierenden Neonlichts, bis es in der Dunkelheit geradezu faßbar ist und auch die räumliche Hülle überschreitet. Das blaue Licht dringt durch die Fenster, verändert die vertraute Außenansicht der Kirche und tangiert so auch das Stadtbild. Das Aufheben des Widerspruchs von Innen und Außen ist von der Künstlerin bedacht. Sie unterstreicht es durch "Lichtachsen": eine blaue Neonröhre im Glockenturm von Heiliggeist und eine Stele, die blaues Licht auf die am entgegengesetzten Ende der Landshuter Altstadt liegende Martinskirche wirft.
Das intellektuelle Zentrum des Katalogs bildet der knapp 40-seitige Aufsatz des Ausstellungsleiters Franz Niehoff (S. 25-63), der auf hohem Reflexionsniveau Pachtners "Überschreitung" in den aktuellen kulturphilosophischen Kontext (Blumenberg, Jonas, Habermas) stellt. Zahlreiche Literaturhinweise findet der interessierte Leser im Anmerkungsteil. Zugleich lenkt Niehoff den Blick des Lesers und Betrachters immer wieder in die konkrete Anschaulichkeit des von Pachtner inszenierten Ereignisses und erinnert an die - geschichtlich gewordene - Aura des Ortes. Ausführlich bespricht Niehoff die Installation in vergleichender kunsthistorischer Betrachtung: "Kunst und Kirche" (Heiliggeist und andere Orte); Joseph Beuys als "Impulsgeber"; die Konzeptkunst Hans Haackes (seine Erdarbeit "Der Bevölkerung" im Berliner Reichstag nennt Pachtner selbst); Dani Karavans "Environments"; er erinnert an die serielle Reihung von Menschenbildern in Katharina Frischs "Tischgesellschaft" - um nur einige Beispiele zu nennen. Mit dieser "kunstimmanenten Umkreisung und Annäherung" (S. 50) positioniert Niehoff Pachtners Arbeit in der mit Begriffen wie "Installation", "Performance", "Environment" umschriebenen Gattung der Gegenwartskunst.
Schließlich wurde auch dem Stiftspropst und Dekan B. Schömann die Gelegenheit gegeben, zum Katalog beizutragen. Gemeinsam mit Dekan H. Völkel wählte er einen Text Ernesto Cardenals: "Ego" (S. 64f.), der den Menschen als ein je einzigartiges, unersetzbares allein aus Gottes Liebe geschaffenes Wesen versteht und den Egoismus als Gottesferne anklagt. Dieser Text mag noch einmal daran erinnern, daß der Ort der "Überschreitung" ein zwar für Ausstellungen genutzter, aber - noch immer benedizierter - sakraler Raum ist.
Rezension unter www.portalkunstgeschichte.de